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Cyanverbindungen

I. Allgemeine Toxikologie

1. Chemisch-physikalische Eigenschaften

Als Cyanverbindungen werden Stoffe mit der funktionellen Gruppe CN- bezeichnet. Dazu gehören Blausäure (Cyanwasserstoff, HCN) und deren Salze, die Cyanide. In konzentrierter Form ist HCN eine farblose, nach Bittermandeln riechende Flüssigkeit, deren Siedepunkt bei 26°C liegt. Blausäure-Dämpfe sind leichter als Luft und steigen auf.
Die Fähigkeit, den Geruch von bitteren Mandeln wahrzunehmen, ist genetisch determiniert und nur bei etwa 50% der Bevölkerung vorhanden. Die Geruchsschwelle liegt bei 0.2-5 ppm HCN. Eine weitere Warnwirkung kann durch die Reizung im Rachenbereich gegeben sein.
 

2. Quellen

Die Hauptursache von Cyanidvergiftungen bei Tieren stellt die Aufnahme verschiedener Pflanzenarten dar, die blausäureabspaltende Glycoside (cyanogene Glycoside, zum Beispiel Amygdalin, Prunasin oder Linamarin) speichern. Die cyanogenen Glycoside werden durch pflanzliche Enzyme - im Pansen der Wiederkäuer auch durch mikrobielle Enzyme - unter Freisetzung von CN- gespalten. Es sind etwa 1'000 Pflanzenarten bekannt, die Cyanid in gebundener Form als cyanoge Glycoside enthalten, so beispielsweise der Kirschlorbeer, die Kerne anderer Prunusarten (Bittermandeln, Pfirsiche, Aprikosen, Pflaumen) sowie der Flachs. Bittermandeln enthalten 0.05-0.1% HCN, Bittermandelöl enthält 4% HCN.
Eine potentielle Gefahr geht aber auch von der umfangreichen industriellen Abgabe von Cyaniden als regelwidrige Abwasserkontamination aus. Cyanide werden beispielsweise als Lösemittel für Edelmetalle und zur Stahlhärtung gebraucht. Blausäure entweicht bei der Verbrennung von Plastikmaterialien und führt zusammen mit Kohlemonoxid zu Rauchvergiftungen.
Zyklon ist flüssige Blausäure, die mit stark riechenden Warnstoffen vermischt an Trägermaterialien wie Kieselgur adsorbiert ist und zur Schädlingsbekämpfung in geschlossenen Räumen (Tanks, Silos, Schiffen, Lagerräumen, Gewächshäusern) verwendet wird.
 

3. Kinetik

Da Blausäure sehr schnell durch biologische Membranen diffundiert, treten Vergiftungssymptome bereits nach wenigen Sekunden auf. Die Resorption von Blausäure ist sowohl über den Respirationstrakt, als auch über den Gastrointestinaltrakt und die Haut möglich. Im Blut wird Cyanid zum Teil an Plasmaproteine gebunden. Daneben folgt eine rasche Diffusion durch den ganzen Körper. Das Verteilungsvolumen des Cyanidions beträgt 1.5 L/kg Körpergewicht. Bei Ingestion anorganischer Cyanidsalze können sich die ersten Symptome innerhalb weniger Minuten einstellen.
Nur bei der Cyanidabspaltung von pflanzlichen Glycosiden ist mit einer etwas längeren Latenz (bis 12 Stunden) zu rechnen.
Inaktiviert wird das Cyanid hauptsächlich in der Leber, entscheidender Schritt des Abbaus ist die Mobilisation von Schwefel für die Sulfatierung. Dabei entsteht aus Cyanid (CN-) das ungiftige Thiocyanat (SCN-), das grösstenteils über den Urin ausgeschieden wird. Kleinere Cyanidanteile können als Blausäure über die Lungen abgeatmet werden. Nur ein geringer Teil des im Organismus vorhandenen Cyanids wird unverändert renal eliminiert.
Die Eliminationshalbwertszeit von Cyanid beträgt beim Hund 19 Stunden.
 

4. Toxisches Prinzip

Ein Teil der toxischen Wirkung der Cyanide liegt in der Irritation der Schleimhäute: Cyanverbindungen (insbesondere Blausäure, und Cyanide) sind ätzend und reizen die Schleimhäute des Atem- und Gastrointestinaltrakts.
Das weitere toxische Moment liegt in der Blockierung der Zellatmung. Das Cyanidion (CN-) hat eine besonders hohe Affinität zum dreiwertigen Eisen (Fe3+), das als prosthetische Gruppe an den Cytochromoxydasen der mitochondrialen Atmungskette gebunden ist. Durch Komplexbildung unterbricht das Cyanidion die Atmungskette, womit auch der Aufbau von ATP durch oxidative Phosphorylierung zum Erliegen kommt. Weil Sauerstoff nicht mehr für die Energiegewinnung gebraucht wird, fliesst sauerstoffreiches, das heisst hellrotes Blut im gesamten Kreislaufsystem, also auch im venösen Bereich. Der Tod tritt infolge Schädigung der Nervenzellen des Atemzentrums und der daraus folgenden Asphyxie ein.
 

5. Toxizität bei Labortieren

Als minimale letale Dosis (oral) der Blausäure und Cyanide wird ein Bereich von 1-10 mg/kg Körpergewicht angegeben. Die Toxizität der weiteren Derivate wie zum Beispiel der cyanogenen Glycoside korreliert mit der Fähigkeit, Blausäure freizusetzen.
 

Akute orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):

 MausRatteKaninchenHuhn
Acetonitril170-5203'800  
Acrylonitril 78  
Ammoniumthiocyanat330   
Benthiazol4451'590  
Chloroacetonitril136220  
Cyanamid 125  
3-Cyanopyridin 1'190  
Kaliumcyanid (Zyankali)1054 
Kaliumsilbercyanid 21  
Natriumcyanid 0.64  
Silbercyanid 123  
 
In der Atemluft wirken 200-300 ppm Blausäure rasch tödlich, 100 ppm sind lebensgefährlich, 20-40 ppm werden auch bei längerer Einwirkung im allgemeinen vertragen. Der MAK-Wert wird mit 4.7 ppm (5 mg/m3) bis 10 ppm (11 mg/m3) angegeben.
 

6. Umwelttoxikologie

Cyanverbindungen führen immer wieder zu Massenvergiftungen von Fischen und anderen aquatischen Organismen. Eine verheerende Cyanidvergiftung trat 1995 in Guyana (Südamerika) auf, als ein Damm eines Goldbergwerkes brach und die aufgestauten, cyanidhaltigen Abwässer mehrere Flusssysteme kontaminierten. Grössere Fischsterben wegen cyanidhaltiger Industrieabwässer treten auch in unseren Breitengraden auf. Im Frühjahr 2000 entwich eine zyanid- und schwermetallhaltige Giftwelle aus einer Goldmine in Rumänien und kontaminierte die Flüsse Lapus, Somes, Theiss und Donau. In Rumänien und Ungarn hat das Giftgemisch vorübergehend alles Leben in den betroffenen Flüssen vernichtet.
 

II. Spezielle Toxikologie - Kleintier

1. Toxizität

Die minimal letale Dosis von Blausäure oder Zyankali liegt bei 2 mg/kg Körpergewicht.
 

2. Latenz

Die Latenzzeit von Blausäurevergiftungen beträgt wenige Sekunden. Nach oraler Aufnahme anorganischer Cyanidsalze können sich die ersten Symptome in Minuten einstellen. Nur bei der Cyanidabspaltung von pflanzlichen Glycosiden ist mit einer längeren Latenz (1-12 Stunden) zu rechnen.
 

3. Symptome

3.1Allgemeinzustand, Verhalten
Erregung, plötzlicher Kollaps, Schock, Koma
  
3.2Nervensystem
Zittern, Krämpfe, Opisthotonus
  
3.3Oberer Gastrointestinaltrakt
Salivation, Erbrechen, Bittermandelgeruch
  
3.4Unterer Gastrointestinaltrakt
Keine Symptome
  
3.5Respirationstrakt
Dyspnoe, Tachypnoe, Hyperventilation, im späteren Stadium Schnappatmung, dann Atemstillstand
  
3.6Herz, Kreislauf
Hypotonie, Kreislaufschock, Tachykardie, Bradykardie, Arrhythmien
  
3.7Bewegungsapparat
Keine Symptome
  
3.8Augen, Augenlider
Dilatierte Pupillen
  
3.9Harntrakt
Keine Symptome
  
3.10Fell, Haut, Schleimhäute
Hyperämie, Schleimhäute leuchtend rot, später cyanotisch
  
3.11Blut, Blutbildung
hellrotes Blut auch im venösen Gefässsystem
  
3.12Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation
Keine Symptome
 

4. Sektionsbefunde

-Es fällt die hellrote Farbe des Blutes auf.
-Nach oraler Aufnahme sind Verätzungen der Magen- und Ösophagusschleimhaut zu finden.
-Bei der Sektion verbreitet sich ein Geruch nach bitteren Mandeln.
 

5. Weiterführende Diagnostik

5.1Direkter Nachweis
-Cyanid-Nachweis im Vollblut mittels Diffusionstest, Farbreaktion oder Teststreifen. Beim Menschen sprechen Serumkonzentrationen von > 0.5 mg/L für eine akute Blausäure-Vergiftung. Für Kleintiere liegen keine Werte vor. Wir empfehlen den Metaboliten Thiocyanat im Plasma oder besser im Urin nachweisen zu lassen.
 

6. Differentialdiagnosen

Lösungsmittelvergiftung, Rauchvergiftung durch Kohlenmonoxid, Herzinsuffizienz, Tumoren, Stenose der Atemwege, Dinitrophenol- oder Bromethalinvergiftung.
 

7. Therapie

7.1Notfallmassnahmen
-Kreislauf stabilisieren
-Atmung stabilisieren
-Krämpfe kontrollieren
 
7.2Dekontamination und Elimination
-Patienten aus der kontaminierten Umgebung bringen (Atemmaske!)
-Provozierte Emesis, wenn noch keine klinische Symptome vorliegen
-Sofern guter Schluckreflex: wiederholte Verabreichung von Aktivkohle mit einem Laxans, z.B. Carbodote, Trinklösung (24 g Carbo activatus/100 ml) oder Carbovit® (15 g Carbo activatus/100 ml), in Abständen von 4-6 Stunden
 
7.3Antidottherapie
-Der Therapieversuch mit Natriumnitrit und Natriumthiosulfat muss so rasch wie möglich durchgeführt werden. Nitrit führt zur Bildung von Methämoglobin; das dreiwertige Eisen im Methämoglobin bindet dann Cyanid, womit in kürzester Zeit ein beträchtlicher Teil des resorbierten Cyanids sequestriert wird. Natriumthiosulfat beschleunigt hingegen die Umwandlung von Cyanid in Thiocyanat.
-Natriumnitrit, 16 mg/kg langsam i.v. als 3%ige Lösung; Vorsicht: Blutdruckabfall!
-Natriumthiosulfat, 400 mg/kg i.v. als 25%ige Lösung, Wiederholung nach 30 Minuten möglich.
-Als Alternative zu Natriumnitrit kommt Dimethylaminophenol (4-DMAP) in Frage. Dosierung: 3-4 mg/kg i.v. oder i.m.
 

8. Fallbeispiel

Narkotisierte Beagles bekamen 2.5 mg/kg Natriucyanid i.v. Die unbehandelten Hunde starben 5-7 Minuten nach der Cyanidinjektion wegen starken Blutdruckabfalls und Atemlähmung. Dieses Tiermodell wurde verwendet, um die Wirksamkeit verschiedener Antidota zu prüfen.
-Therapie: Folgende Massnahmen wurden ab der dritten Minute nach Exposition getestet: Sauerstoffbeatmung, Natriumnitrit (20 mg/kg i.v.) oder Dimethylaminophenol (5 mg/kg i.m. oder i.v.).
-Verlauf: Durch alleinige Beatmung konnten keine Hunde gerettet werden. Hingegen war die Therapie mit Natriumnitrit oder Dimethylaminophenol in allen Fällen erfolgreich: Die Spontanatmung setzte wieder ein und die behandelten Hunde überlebten (Vick & Froehlich, 1991).
 

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