Wirkungsort
Cholinesterasehemmer führen zu einer Akkumulation von ACh in der Nähe von cholinergen Nervenendigungen. Dies führt zu einer Stimulation von:
- | muskarinergen Rezeptoren an den autonomen Zielorganen |
- | nikotinergen Rezeptoren der autonomen Ganglien und Skelettmuskulatur |
- | cholinergen Rezeptoren im ZNS (Taylor 2001c) |
Im Gegensatz zu
Neostigmin kann Physostigmin die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und wirkt somit auch auf das ZNS (
Adams 2001c). Aufgrund unterschiedlicher Empfindlichkeit sind zuerst muskarinerge und erst bei höherer Dosierung nikotinerge Rezeptoren (vegetative Ganglien, neuromuskuläre Endplatte) betroffen (
Löscher 2002a).
Wirkungsmechanismus
Reversibler Cholinesterasehemmer
Physostigmin bindet an die anionische und esteratische Stelle der AChE und verhindert somit die Bindung von ACh mit AChE. Physostigmin wirkt als kompetitives Substrat. Es wird ähnlich wie ACh hydrolysiert, jedoch viel langsamer (
Adams 2001c).
Direkte nikotinerge Wirkung
Physostigmin interagiert direkt mit dem nikotinergen Acetylcholinrezeptor. Bei geringen Konzentrationen wirkt Physostigmin als Agonist und aktiviert den Rezeptor (
Aracava 1987a;
Maelicke 1993a). Diese Aktivierung findet auch statt, wenn die Bindungstelle von ACh mit einem kompetitiven Antagonisten blockiert oder durch ACh selber desensiblisiert ist (
Maelicke 1993a). Bei höheren Konzentrationen hemmt Physostigmin jedoch den Rezeptor durch eine Blockierung des Rezeptorkanals in seinem offenen Zustand (
Aracava 1987a;
Maelicke 1993a).
Analgetische Wirkung
Es gibt starke Hinweise darauf, dass muskarinerge Acetylcholinrezeptor-Mechanismen eine Rolle im Schmerzmanagement spielen. Klinisch wurde in der Humanmedizin gezeigt, dass Physostigmin postoperativ für kurze Zeit Schmerzen lindert. Schwere neurogene Schmerzen konnten erfolgreich mit Physostigmin behandelt werden (
Hartvig 1989a).
Gastrointestinaltrakt
Physostigmin bewirkt eine Kontraktion der glatten Muskultatur und erhöht somit die Motilität und Peristaltik des Gastrointestinaltrakts (
Adams 2001c). Da Physostigmin auch eine Wirkung auf das ZNS ausübt, wird
Neostigmin als Peristaltikum bevorzugt (
Petzinger 2002a).
Auge
Bei lokaler und systemischer Verabreichung findet eine Kontraktion des M. sphincter pupillae (Miosis) und des Zilliarmuskels (Blockierung des Akkommodationsreflexes) statt. Der intraokuläre Druck wird vermindert (
Adams 2001c;
Taylor 2001c). Die lokale Verabreichung verursacht zusätzlich eine konjunktivale Hyperämie (
Taylor 2001c).
Skelettmuskulatur
Die nikotinergen Rezeptoren an der Skelettmuskulatur werden stimuliert (
Taylor 2001c). Nach Verabreichung einer hohen Dosis kann es zu Muskelzuckungen kommen (
Adams 2001c). Bei zu hoher Acetylcholinkonzentration folgt der Stimulation jedoch eine durch Depolarisationsblock abgeschwächte neuromuskuläre Uebertragung, was bis zur Paralyse führen kann (
Starke 2005b;
Taylor 2001c). Im Gegensatz zu Neostigmin besitzt Physostigmin keine direkte Wirkung auf die nikotinergen Rezeptoren von Skelettmuskelfasern (
Adams 2001c;
Taylor 2001c). Physostigmin ist wie Neostigmin ein Antagonist von d-Tubocurarin und anderen nichtdepolarisierenden (kompetitiven) neuromuskulären Blockern von somatischen myoneuralen Verbindungsstellen. Bei einer zu hohen Dosis von
nichtdepolarisierenden Muskelrelaxantien kann Physostigmin als Antagonist eingesetzt werden, jedoch nicht bei
depolarisierenden neuromuskulären Blockern (z.B. Succinylcholin). Dies würde zu einer synergistischen Wirkung führen (
Adams 2001c).
Kardiovaskuläres System
In therapeutischen Dosierungen besitzt Physostigmin keine ausgeprägten kardiovaskulären Effekte. Höhere Dosierungen führen jedoch gleichzeitig zu einer ganglionären Stimulation sowie muskarinergen Wirkung auf das Herz und die Blutgefässe. Die daraus resultierende Hypotension und Bradykardie können zu Arrhythmien führen (
Adams 2001c). Die Bradykardie wird nicht allein der cholinesterasehemmenden Wirkung von Physostigmin zugeschrieben. Sie kann durch M
2-Antagonisten stärker aufgehoben werden als durch Nikotinrezeptorantagonisten. Der Wirkmechanismus ist demjenigen von
Neostigmin sehr ähnlich. Bei beiden Wirkstoffen wird eine Aktivierung der M
2-Rezeptoren vermutet (
Stein 1997a).
Kleintiere
Bei Katzen bewirkt 0,1 mg/kg Physostigmin i.v. einen Abfall des mittleren Blutdrucks und eine Bradykardie; die Wirkung ist dosisabhängig (
Hara 1992a). Beim Hund wirkt Physostigmin in geringer Dosis negativ inotrop. Bei höherer Dosierung ist die Wirkung negativ chrono-, dromo- und inotrop (
Kobayashi 1985a).
Respirationstrakt
Die Cholinesterasehemmer lösen eine Kontraktion der glatten Muskulatur der Bronchien aus (
Adams 2001c).
Harnblase
Die Verabreichung von Cholinesterasehemmern führt zu einer Kontraktion der glatten Muskulatur der Harnblase (
Adams 2001c).
Sekretorische Drüsen
Bei einer geringen Dosis von Cholinesterasehemmern erhöht sich die Sekretion von cholinerg innervierten Drüsen. Eine hohe Dosierung führt dagegen zu einer erhöhten sekretorischen Ruhephase (
Taylor 2001c).
ZNS
Als tertiäres Amin kann Physostigmin die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und zeigt Wirkung auf das ZNS. Bei einer niedrigen Dosierung zeigen sich nur geringe ZNS-Effekte. Bei einer hohen Dosierung findet zuerst eine Stimulation und anschliessend eine Depression des ZNS statt. Eine hohe Dosierung kann zu Konvulsionen führen (
Adams 2001c). Beim Kaninchen und Hund wird die Morphin-induzierte Atemdepression durch Physostigmin antagonisiert, beim Hund auch der Bewusstseinsverlust. Der analgetische Effekt von Morphin wird nicht beeinflusst. Es wird vermutet, dass diese Wirkung durch den verlängerten Effekt von Acetylcholin, welches von Neuronen aus dem Hirnstamm sezerniert wird, zustande kommt (
Weinstock 1980a). Nach intravenöser Verabreichung beim Hund wird die Aktivität der Acetylcholinesterase im Plasma und Kortex gehemmt, in der Zerebrospinalflüssigkeit jedoch erhöht (
Mattio 1986a).